[ Eine traurige Geschichte ]
Ein Hering liebt eine Auster
Im kühlen Meeresgrund;
Es war sein Dichten und Trachten
Ein Kuss von ihrem Mund.
Die Auster, die war spröde,
Sie blieb in ihrem Haus;
ob der Hering sang und seufzte,
Sie schaute nicht heraus.
Nur eines Tages erschloss sie
Ihr duftig Schalenpaar;
Sie wollt im Meeresspiegel
Beschaun ihr Antlitz klar.
Schnell kam der Hering geschwommen,
Streckt seinen Kopf herein
Und dacht, an einem Kusse
In Ehren sich zu freun.
0 Hering, armer Hering,
Wie schwer bist du blamiert!
Sie schloss in Wut die Schalen,
Da war er guillotiniert.
Jetzt schwamm sein toter Leichnam
Wehmütig im grünen Meer
Und dacht: "In meinem Leben
Lieb ich keine Auster mehr!"
Josef Victor von Scheffel
(1826-1886)
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