[ Verlorene Träume ]
Karin saß am Fenster und schaute in den Garten hinaus. Es war noch früh am Morgen und alle im Haus schliefen noch. Außer Mutter, die war in der Küche und machte das Frühstück. Man hörte, daß sie den Tisch deckte am Klappern der Kaffeeschalen, Teller und Bestecke das durch das geöffnete Küchenfenster zu hören waren.
Karin war noch nicht ganz munter, sie hatte den Kopf an den Fensterrahmen gelehnt und die Augen halb geschlossen. Doch, was bewegte sich da im Gras? War es der Hunf? Sie hob den Kopf und schaute angestrengt in die Ecke des Gartens.
Dort bemerkte sie eine kleine Gestalt, die zu ihr hinauf blickte. Es war ein kleines Männchen mit einem weißen Hemd und langen grünen Hosen und einer roten Zipfelmütze auf dem Kopf. Sie rieb sich die Augen, denn sie glaubte, nicht richtig gesehen zu haben. Die kleine Gestalt winkte zu ihr herauf.
„Pst, pst,“ machte das der kleine Männchen.
„Meinst du mich?“ fragte Karin
„Ja, dich.“
„Ja wer bist du denn? Ich habe dich noch nie da gesehen,“ sagte sie
„Ich bin das Traummännlein, ich sollte eigentlich schon längst schlafen, aber ich brauche deine Hilfe.“„Ja, wie kann ich dir denn helfen?“ Karin war ganz erstaunt.
„Ich habe meinen Sack mit all den Träumen verloren und kann ihn nicht wiederfinden.“ Das Traummännlein setzte sich auf einen Stein, der in der Wiese lag und stützte sein Kinn auf die Hände und blickte ganz traurig zu Karin hinauf.
In diesem Augenblick öffnete sich die Türe und die Mutter kam herein.
„Karin, du sitzt am offenen Fenster und träumst wieder vor dich hin, gehe ins Badezimmer und ziehe dich an, wir frühstücken dann.“
„Hallo, Traummännlein, ich muß jetzt runter gehen und frühstücken. Ich komme dann in den Garten, warte auf mich!“ rief sie in den Garten hinunter, konnte das Traummännlein aber nirgends mehr entdecken.
Das Frühstück dauerte ewig, so schien es ihr. Endlich standen alle auf. Großvater ging in den Schuppen, um das Vogelhäuschen, welches er für die Vögel bastelte, fertig zu machen. Mutter begann in der Küche für das Mittagessen alles vorzubereiten, Vater nahm die Zeitung und setzte sich in die Leseecke. Tante Helga und Onkel Fritz, die zu Besuch waren, setzten sich wieder an den Küchentisch und unterhielten sich mit Grossmutter. Karin half noch Mutter das Geschirr in die Spüle zu tragen und das Tischtuch zusammen zu falten und lief dann sofort in den Garten hinaus.
„Hallo, wo bist du?“ rief sie leise und schaut sich im Garten um.
„Pst, pst, hier unter dem Baum,“ hörte sie eine ebenso leise Stimme.
„Du willst mir wirklich helfen?“ Das Traummännlein saß unter dem Apfelbaum auf einer großen Wurzel und wartete auf Karin.
„Komm, wir gehen in den Baum hinein,“ sagte es und nahm Karin beim Rockzipfel, weil er war so klein, daß er nicht höher hinaufreichte.
„Oh, in den Baum?“ Sie schaute erstaunt.
Doch er drehte sich um und ging auf den Stamm zu und da öffnete sich der Stamm doch tatsächlich und ließ die beiden eintreten. Es öffnete sich ein kleiner Spalt, der gerade so groß war, daß Karin hindurch konnte und sie sah eine Treppe die hinab führte in einen großen unterirdischen Saal.
Karin staunte. Sie hätte nie gedacht, daß unter dem Baum unter ihrem Garten ein so großer Saal mit so wunderschönen Dingen zu finden war.
In der Ecke stand ein Schaukelpferd, auf dem saß ein großer Clown, angelehnt an einen Schrank mit Regalen in denen viele Puppen und Plüschtiere durcheinander saßen und lagen. Gegenüber war eine große Truhe mit offenem Deckel, in der lagen viele andere Spielsachen. Bälle, ein Feuerwehrauto, eine Trompete und ein Tamburin. In der anderen Ecke stand ein Kasperletheater, das Krokodil hing ganz schlaff von der Bühne herunter und der Kasperl lehnte an den Kulissen. Die Prinzessin war herunter gefallen und lag neben dem Theater am Boden.
In der anderen Ecke lag ein Segelschiff, daneben ein Flugzeug und unter dem Flugzeug sah man eine große Lokomotive mit ein paar Waggons umgestürzt liegen. Die Schienen lagen durcheinander daneben.
Oben schwebte eine Wolke, auf der saßen ein paar Engel mit weißen Gewändern voller silberner Sterne.
„Oh, was ist denn das?“ rief Karin voller Entzücken aus.
„Das sind die Träume, die ich jede Nacht an die Kinder verteile. Aber um die Träume auch verteilen zu können, brauche ich meinen Sack mit dem Goldstaub. Den Goldstaub streue ich dann über die schlafenden Kinder aus und die Dinge aus diesem Saal erscheinen dann den Kindern im Traum. Aber leider, ist mir dieser Sack abhanden gekommen.“
Und dicke Tränen rollten über sein Gesicht.
„Und du willst, daß ich dir suchen helfe? Wann hattest du denn den Goldstaub das letzte Mal?“
„Vor zwei Nächten, da war er noch da und gestern abend war er weg. Ich habe ihn da hergestellt!“
Er zeigte mit dem Zeigefinger mitten in den Saal, doch dort war nur ein leerer Platz.
„Also, eigentlich hast du da eine große Unordnung. Man müßte das alles zusammen räumen, vielleicht finden wir den Sack dann wieder.“
„Nein, nein, ich finde immer wieder alles,“ verteidigte sich das Traummännlein.
Da war es Karin, als ob sich der Clown dort am Schaukelpferd bewegt hätte. Als sie aber hinsah, saß er wieder ganz ruhig da und schaute sie mit seinen großen, bemalten Augen ganz unschuldig an. Aber war da nicht ein kleines Zwinkern in seinen Augen zu sehen und zuckten nicht die Mundwinkel ein wenig?
Karin ging langsam auf den Clown zu und blickte ihm tief in die Augen. Und wirklich, der Clown zwinkerte ganz leicht und wackelte auch ganz leicht mit seinem Kopf und die roten Haarlocken zitterten leise.
Und war da nicht ein leises Kichern zu hören, von der oben schwebenden Wolke? Hatten sich die Engel nicht gerade die Hand vor den Mund gehalten und kicherten? Nein, doch nicht, jetzt war es wieder ganz ruhig und sie blickten unbeteiligt in die Ferne.
Auch der große Teddybär dort auf dem Stuhl konnte scheinbar nicht ruhig sitzen, sein vorgewölbtes Bäuchlein zitterte ein wenig und er fiel vom Stuhl und das kleine Glöckchen auf seinem Halsband klingelte leise.
Auch auf dem Regal mit den Puppen und Plüschtieren schien irgendwie Unruhe zu herrschen, es schien Karin, als ob sich alles bewegte und die Anordnung der verschiedenen Puppen und Plüschtiere noch mehr durcheinander kamen.
Da stieg in Karin ein Verdacht auf.
„Also, wir werden jetzt einmal Ordnung machen, in deinem Traumland,“ sagte sie und begann zuerst einmal im Regal die Puppen zu ordnen. Sie ordnete sie nach Größe und Kleidung, die Plüschtiere wurden abgestaubt und in Ordnung hingesetzt, die Elefanten kamen alle auf das oberste Regal und die kleinen Äffchen darunter, dann die Teddybären und die Kätzchen. So, das sah schon gut aus. Sie hob alle Dinge, die am Boden lagen auf und legte sie fein säuberlich nebeneinander auf die Regale.
Aber den Sack mit dem Goldstaub fand sie nicht.
„Ja es tut mir leid, aber der Sack ist nicht da.“ sagte sie.
Doch da runzelte sie die Stirne, jetzt hatten sie alle Traum -Zutaten sortiert, abgewischt und weggeräumt. Nur der Clown saß noch immer unbeweglich auf dem Schaukelpferd.
Sie ging auf den Clown zu und versuchte ihn vom Schaukelpferd weg zu heben. Doch er machte ganz steif und versuchte sitzen zu bleiben. Mit einem Ruck hob sie ihn jedoch weg und fiel mit ihm gemeinsam auf den Boden.
„Ohhh, da ist er ja!!!“ rief in diesem Moment das Traummännlein und beugte sich über das Schaukelpferd um den Sack aus der Ecke zu holen.
Karin mußte laut lachen. Sie befreite sich von dem Clown, der auf ihr lag und stand auf.
„Der Clown hat ihn versteckt! Aber warum nur?“
„Ich glaube ich weiß warum,“ sagte das Traummännlein. „Ich habe ihn in letzter Zeit so wenig zu den Kindern geschickt. Da war er so lange alleine. Aber die Kinder sind in letzter Zeit so wenig in den Zirkus gegangen, haben nicht von Clowns träumen wollen. Deswegen war er ganz traurig. Wahrscheinlich wollte er mir das damit sagen.“
Er ging auf den Clown zu und gemeinsam mit Karin hoben er ihn auf und setzten ihn wieder auf das Schaukelpferd.
„Ich möchte gerne morgen von einem Clown und einem großen Zirkus träumen.“ sagte Karin.
Es war ihr, als ob der Clown ein wenig lächelte.
„Ich danke dir, daß du mir geholfen hast, ich werde dir einen schönen Traum vom Zirkus schicken!“
Sie liefen beide die Treppe wieder hinauf und wie von Zauberhand öffnete sich der Baumstamm ein wenig und sie trat in das helle Sonnenlicht hinaus. Als sie sich umdrehte, war der Baumstamm unverändert, wie immer und auch keine Spur vom Traummännlein.
Sie setzte sich hin, lehnte sich an den Baumstamm und lächelte still vor sich hin. Wie doch das Traummännlein unordentlich war. Da konnte er ja nichts finden. Und wie schlau der Clown doch war!
„Ja Karin, du träumst schon wieder in den Tag hinein,“ sagte die Mutter und stand vor ihr.
„Wo warst du denn, ich habe dich gerufen. Du solltest einmal dein Zimmer in Ordnung bringen, da findest du ja nichts mehr!“
Karin lief durch den Garten zu ihrem Zimmer und dachte wieder an ihr Erlebnis. Aber wahrscheinlich hatte sie wirklich nur geträumt. Als sie in ihr Zimmer kam, bemerkte sie eine kleine rote Locke auf ihrem Rock, sie war der Lockenpracht des Clowns sehr ähnlich.
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